Nun ist Jahr 2023 zu Ende. Und ich mache eine Schreibpause. 2023 war kein gutes Jahr. Nicht für den Frieden, nicht für die Umwelt und so kann 2024 auch nur besser werden. Klingt ja auch viel besser, runder, nach einem echten Schaltjahr. Mit einem Sommermärchen auf dem Jahnplatz, sollte Deutschland vielleicht doch noch einmal Europameister werden. Mit Arminia wird es ja beim grauen Maus Image bleiben. Und es ist die Olympiade in Paris. Noch nie war ich näher an der Olympiade dran. Ok. 1972 mit Heide Rosendahl. Aber da war ich Sieben. Man könnte ja genialer Weise mit dem Fahrrad zum Eifelturm radeln, aber die Ferienvorgaben der Schulministerin sprechen dagegen. Und die Welt ändert sich so schnell und bald wird Gemini mein neuer Freund und treuer Begleiter, eine KI-Instanz. Ein kleiner Bot. Der weiß alles. Im benachbarten Supermarkt läuft ein kleiner R2D2 herum. In einem Korb hat er Bananen für die Kundenkinder. Wenn man z.B. Zahnstocher sucht, fragt man diesen Roboter und er führt einen direkt zu den Zahnreinigern. Immer häufiger ertappe ich mich dabei, die Selbstscankassen zu nutzen. Wer weiß, wann ich mir Chip in die Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger einpflanzen lasse. Mit all meinen Zugangsdaten. Was sagen schlaue Menschen zum Wandel? Der Mensch will immer, dass alles anders wird, und gleichzeitig will er, dass alles beim Alten bleibt. (Paulo Coelho) Das Gegenteil von Veränderung ist Leiden. Ein Mensch leidet, wenn er sich zwanghaft von jedem Ändern abhält. Jedes Ändern ist ein Schritt nach vorne, weil wir leben. Leben heißt ändern. Wer nicht lebt, leidet (Joey Potter) Oder aber: Wie der alte chinesische Dichter und Denker Lao Tsu vor langer Zeit sagte: „Das Leben ist eine Reihe von natürlichen und spontanen Veränderungen. Widersetze dich ihnen nicht, das erzeugt nur Kummer.“ Ob alles besser wird? Bestimmt nicht. Es wird halt anders. Wir sind ein Teil davon. So gibt es auch 2024 hier wieder interessante Geschichten aus Ostwestfalen. Alles Gute
Sie wollte es schaffen. Es war knapp. 100000 Schuhe wollte sie verkauft haben.
In zweiunddreißig Jahren in der Schuhabteilung des Kaufhauses.
Als Lehrmädchen startete sie im letzten Jahrtausend bei Karstadt. Mit dem Zug fuhr sie jeden Morgen von Altenbeken ins Oberzentrum nach Bielefeld. Damals standen in Altenbeken noch die Fichten, an den Hängen, nun alle tot. Zweite Etage. Sportschuhe. Holde war dort nun verortet. Holde war sportlich. Im ostwestfälischen Hinterland trainierte sie Querfeldeinlauf. Jeden Morgen. Durch Kalamitätsflächen. Sie hatte kurze Haare und verkaufte nun Turnschuhe. Aber es kamen immer weniger Kunden.
Die Kaufhausmanager alterten mit ihren Kunden. Bugattilatschen waren out. Natürlich bekam sie Rabatt für ihre neue Laufschuhe, aber stylischere Marken gab es in trendigen Läden in der Altstadt. Neulich kam ein Spieler von Arminia Bielefeld um die Ecke. Er fand einen alten Samba Schuh unten im Regal. Ob Holde ihm diesen auch in Größe 46,5 verkaufen könne. Das wäre möglich, aber der Kunde müsse in einer Woche wiederkommen.
Sie muss den Schuh bestellen. Der Kunde kam natürlich nicht wieder. Und Holde traf in der Mittagspause Wolfgang. Sie trafen sich immer in der Mittagspause. Kamillentee mit Wurstbrot.
Wolfgang war sehr groß und schlank. Sein Vater war schon Herrenkleidungsverkäufer. Wolfgangs Vater hatte in der Leineweberstadt Herrnschnittmuster entworfen und als das große Kaufhaus Karstadt in der City öffnete, fand er dort eine neue Arbeitsstelle mit Mittagspause im hauseigenen Restaurant. Wolfgang stieg in seine Fußstapfen und verkaufte nun Herrenoberbekleidung. Männer sind immer sehr durcheinander, wenn sie einen Anzug brauchen. Amerikanische Inch, deutsche Bauchumfänge oder französische Maße. Das konnte kein Mann sich merken. Frauen Größe 38 ging immer. Für einen Mann gab es Xl, Größe 56 oder 34 inch.
Aber nun war es auch für Wolfgang vorbei. Er war nun gerade 60 geworden und muss wohl stempeln gehen. Es herrscht natürlich Fachkräftemangel. Aber im stylischem Fashioncenter liegen die Teens herum. Was soll er da.Bsrauchen die einen Anzug? Oder nur Jeans für 20 Euro?
Zumal die gesamte Kleidungsbranche vor einen Umbruch steht. Die Firma Shapse.com aus China hat ein Programm für jeden Hausmann entwickelt. Mit einer App scannt man sich selbst, schickt die Fotos nach China und die kantonesische KI schneidert dann passgenaue Leibchen.
Holde und Wolfgang würden nie wieder in einem Kaufhaus arbeiten. Das war vorbei. Besonders bitte war es, dass Wolfgangs Sohn Walfgerd die Seite von Temu entdeckte.
Temu lockt mit schriller Werbung und niedrigen Preisen und bewirbt ein Einkaufserlebnis „wie für Milliardäre“. Die App bietet eine breite Palette von Produkten zu niedrigen Preisen an und konkurriert mit anderen bekannten E-Commerce-Plattformen wie Amazon, Shein und Walmart Die App setzt auf Gamification, um die Kunden anzusprechen.
Über Temu werden hauptsächlich Mode, Elektronik, Haushaltswaren, Schönheitsprodukte, Spielzeug und Nonfood-Haustierbedarf angeboten. Die Versandkosten sind bei Temu im Kaufpreis enthalten. Und das Beste ist: Heute bestellt und in sieben Tagen sind die Waren von China in Bielefeld. Im eigenen Briefkasten.
Walfgerd beschleunigte mit seinem Einkaufsverhalten den Untergang des ostwestfälischen Kaufhauses.
Und dann war da noch Frau Giesewetter. Niemand durfte sie mit ihrem Vornamen ansprechen. Und bitte nicht Kiesewetter!
Frau Giesewetter war aus feinem Haus. Der Tische wurde immer ordentlich gedeckt.
Egal, ob Gäste kamen oder ihr Mann nach einem langen Arbeitstag in der Hühnerfabrik aus dem Kalletal ins Haus schlürfte.
Tassen mit Goldrand, Teller mit Rosenrüschen und natürlich ein Silberbesteck mussten sein. Das Auge isst auch mit. Frau Giesewetter hatte sogar Porzellan aus Meißen. Das aber stand im Regal. Sollte erst bei ihrer Kronjuwelenfeier herausgeholt werden. Keine wusste, wann das war.
Giesewetter arbeitete in der Haushaltswarenabteilung. Hier fand man vom Silikonbecher bis zum Teebeutelhalter alles, was die moderne Hausfrau braucht. Dachte Giesewetter. Wusste Giesewetter.
Während Sie aber neulich versuchte einen Teller der Firma Seltmann-Weiden für 39,99 Euro zu verkaufen, kamen junge Leute auf die Etage und meinten:“ bei Ikea gibt es für 39,99 Euro ein ganzes Service inklusive Koch!“ Wo sind die Manieren geblieben? Wo die Esskultur, die Liebe mit der sie den Tisch deckte? Das Auge isst doch mit. Selbst auf dem Teller aus Muranoglas verwandelte sich der Big Mac in einen Burger al la Chamapain, Und da die Helden der Kochshows ihre Tellereditionen eh alle online verkauften, musste Frau Giesewetters Abteilung schließen.
Also saßen Frau Giesewetter, Wolfgang und Holde in der Backfactory beim 99 Cent Kaffee. Kamillentee war out.
Was sollten sie nun tun? Paketfahrer wurden gesucht, ach, es heißt ja nun Packetfahrende. Und im neuen Zalando-Outlet-Geschäft brauchte man Kabinenaufräumer. Keine Aufräumer:Innen. Sollte schon ein Mann machen, meinte die Konzernleitung.
Und so fand jeder einen neuen Job. Die flotte Holde wurde Paketfahrerin. Dank ihrer Sportschuhe sprintete sie mit jedem Paket in die oberste Etage und blieb rank und schlank. Wolfgang nahm den Job des Kabinenaufräumers an. Endlich musste er nicht mehr die Kunden anlügen, fragten sie ihn: „Steht mir das?“ und Frau Giesewetter wurde Schrankenwärterin bei Ikea. Die Schrankenwärterin kontrolliert die Selbstscankassen und wenn alle Kunden ihre Waren exakt gescannt haben, öffnet sie die Ausgehschranke, die unweigerlich zum Hot Dog Stand führt.
Franziska wollte nicht mehr von irgendwelchen Apps abhängig sein. Sie packte ihr altes Nokia-Klapphandy ein, mit dem sie im Notfall noch ihre Eltern anrufen konnte. So ausgerüstet begab sie sich zur Straßenbahn, wo zu dieser Zeit immer noch Stempelkarten aus Pappe verwendet wurden. Der Weihnachtsmarkt war das Ziel.
Dachte sie.
„Sie kommen hier nicht rein“, raunte der Busfahrer Franziska an. „Sie brauchen eine App. Nehmen Sie das Clip-Ticket, da sparen Sie neunzig Cent. Die alten Stempelkarten können Sie gegen Ride-Points für die App eintauschen“, belehrte der Mobiel-Mitarbeiter. Franziska schlurfte nach Hause.
War es wirklich unmöglich, ohne Smartphone zu leben? Die Krankenkasse, die Sparkasse, das Fitnessstudio und nun bald auch die Deutsche Bahn stellen ihre Dienste nur noch online zur Verfügung.
Noch besaß sie eine Bahncard und eine Sparkassencard. Die würden am Ende des Jahres eingestellt. Sie konnte die Hörgeräte ihres Opas per App steuern und auch seinen Herzschrittmacher überwachen. Der Sensor ihres Smartphones sammelte alle Gesundheitsdaten von ihr und piepte, wenn sie zu viel Aperol Spritz trank.
Die Bundesregierung plante einen neuen Coup. Ab 2025 sollten alle Bundesbürger ein Huawei-Handy bekommen. Kostenlos! Dort wären dann alle offiziellen Dokumente vorinstalliert: Führerschein, Personalausweis und ein digitales Konto für das Bürgergeld. Das Handy gehörte der Spitzenklasse an. Mit dem Bewegungsprofil sollten die Kommunen dann besser die Infrastrukturmaßnahmen steuern können. Zudem könnten Arbeitszeiten, Kontakte, Einkäufe besser kontrolliert werden. Was sollte Franziska machen? Das Leben musste doch weitergehen. Also schnappte sich Franziska ihr Smartphone, tauschte die Pappfahrkarten in Ride-Points um und fuhr in die Stadt. Sie wollte einen Glühwein in der neuesten Attraktion Bielefelds trinken.
Eine 20 Meter hohe Pyramide drehte sich im Oberzentrum. Lange war Franziska nicht mehr in der Stadt gewesen. Es gab sogar eine Jahnplatz-App und eine digitale Weihnachtsmarktkarte.
Am Jahnplatz sah sie ein kleine Schild. Es war ein Signal aus der Zukunft. Sie sah ein Schild, mitten im Tech-Centrum am Jahnplatz in Bielefeld, wo App-Entwickler ihre Spesen mit ApplePay bezahlten, während Uber-, Bolt- und Lieferando-Fahrer wie ausgehungerte Wespen um die Altstadt kreisten, allzeit bereit, über ein Samsung Galaxy, ein Sony Xperia oder ein Xiaomi für einen Auftrag angepingt zu werden; wo formschöne Influencer, rummelplatzlustige Tik-Toker und Insta-Touris ihre Storys drehten: an der Weihnachtspyramide auf dem Weihnachtsmarkt.
Dort, zwischen all den elektrisch blau beleuchteten Gesichtern, fand Franziska das Schild, und das Schild sah sie, und beide wussten: Etwas kippte gerade. Etwas würde sich ändern. Das Schild flimmerte nicht und machte keinerlei Geräusch, man konnte sich nicht mit ihm unterhalten. Es befand sich auch kein QR-Code darauf. Eine schlichte Schiefertafel zierte den Eingangsbereich eines Lokals.
Mit Kreide darauf stand geschrieben: „Kein WLAN! Kommuniziert miteinander! Stellt euch vor, es ist 1995!“ Franziska blieb vor Rührung kurz stehen.
Das Schild wirkte wie ein tröstlicher Anblick. Es war mehr als das – es war eine lang ersehnte Bestätigung. Franziska hatte all die Jahre recht gehabt, trotz der updatehysterischen Zeit. Ein Blick ins Lokal zeigte ausschließlich junge Menschen, von denen viele vermutlich 1995 noch nicht einmal geboren waren. Franziskas Eltern hatten 1995 ihren ersten „Home PC“ bekommen, mit einem klobigen „Tower“, einem Bildschirm mit grüner Schrift auf schwarzem Grund, einem mal röchelnden, mal kreischenden Modem und einer 12-stelligen Compuserve.com-E-Mail-Adresse.
Zu dieser Zeit war Franziska noch nicht geboren. Sie war ein Kind des neuen Jahrtausends, in dem es kein Fotoalbum mehr gab, sondern das Leben von Anfang an digital dokumentiert wurde. Mit diesem Gedanken betrat Franziska das Lokal und wurde sofort in eine Gesprächsrunde aufgenommen.
Ein Leben ohne Smartphone – das ist es, was viele junge Erwachsene jetzt ausprobieren. Sie bezeichnen sich selbst als „Unplugger“ oder „Abschalter:innen“. Man nennt sie auch „Neo-Ludditen“, angelehnt an die rebellischen Arbeiter des 19. Jahrhunderts, die unter der Führung von Ned Ludd in Großbritannien gegen die Industriemaschinen kämpften, die ihre Rechte bedrohten.
Die „Neo-Ludditen“ verabschieden sich von ihren Smartphones und entscheiden sich stattdessen für einfache Tastenhandys, in den USA als „Flipphones“ bekannt. Einige gehen noch weiter und löschen ihre Social-Media-Konten von ihren Laptops; manche möchten sogar vollständig offline sein. Sie versammeln sich nicht nur in Berlin und Brooklyn, sondern auch in Linz, London oder Lissabon an Orten ohne WLAN, wie Parks, Cafés oder Bars. Dort tauschen sie Erfahrungen aus über das Leben ohne Strom in einer Welt, die nie schläft. In Zeitungsartikeln berichten sie von ihrem Stress und ihrer Abneigung gegen das ständige Gepiepse.
Franziska war erleichtert, den Weihnachtsmarkt besucht zu haben. Für das Jahr 2024 hatte sie vor, ihr Handy öfter auszuschalten. Nun wollte sie den Tag bei einem leckeren Glühwein mit einem Schuss Rum ausklingen lassen. Sie schaltete ihr Handy komplett aus. Ja, das war möglich. Schließlich hatten Smartphones einen Ausschaltknopf. Sie steckte das Handy in die Tasche, bestellte den Glühwein und dazu einen Eierpunsch.
„Wir akzeptieren nur Paypal“, informierte der Verkäufer.
Franziska besuchte ihren Onkel Heinz Boddenstädt. Obwohl sie jung war, erkannte sie, dass sie süchtig nach ihrem Smartphone war und beschloss, ihr Leben zu ändern. Bei einer Tasse Ingwertee teilte sie ihrem Onkel ihre Erkenntnisse mit:
„Ich habe bei mir selbst festgestellt, dass je länger und häufiger ich das Smartphone nutzte, desto abhängiger fühlte ich mich davon. Mit der Zeit fühlte ich mich irgendwie unvollständig und extrem unruhig, wenn ich es nicht bei mir hatte. Der reflexartige Griff zum Smartphone, um neue Informationen und Reize zu erhalten, wurde zu einer regelrechten Sucht – vor allem durch die sozialen Medien. Ich habe gezählt: Ganze 70 Mal am Tag habe ich auf mein Handy geschaut, obwohl es keinen Ton von sich gegeben hatte. Eine ernsthafte Sucht nach neuen Reizen, die ernsthafte psychische Folgen haben kann. Der ökologische Fußabdruck eines Smartphones ist ebenfalls enorm. Die begrenzten natürlichen Ressourcen, die für die Produktion benötigt werden, machen das Gerät im Verhältnis zur geringen Nutzungszeit extrem ineffizient.“
Franziska fuhr fort und sprach über die problematischen Herstellungsbedingungen der seltenen Erden, die in Smartphones verwendet werden, und den langen Transportweg dieser Geräte. Sie betonte die Notwendigkeit, Smartphones nachhaltig zu nutzen oder sogar ganz darauf zu verzichten.
Sie erklärte weiter, wie das ständige Greifen zum Smartphone das Gehirn verändert und Konzentrationsprobleme verursacht. Studien zeigten auch, dass der häufige Blick auf den Bildschirm die Augen schädigen könne. Die schlechte Haltung beim Betrachten des Smartphone-Bildschirms könne zu Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule führen, bekannt als der „Smartphone-Nacken“.
Horst hörte aufmerksam zu. Er hatte keinen „Smartphone-Nacken“ Er war „Silbernacken“ . Franziska fuhr fort:
„Die Hosentaschen sind begrenzt, und Smartphones haben die Dimensionen der alten Modelle längst überschritten. Sie drängen sich auf, beanspruchen Raum und zwingen die Hosentaschen, ihre Kapazität zu überschreiten. Wie ein aufgeblähtes Symbol erheben sie sich vielleicht sogar zum neuen Phallus-Symbol für einige Männer. Doch inmitten dieser modischen Ambitionen wird die Unbequemlichkeit greifbar, denn sie zwingen nicht nur unsere Hosen zur Rebellion, sondern auch uns selbst.“
Franziska fing fast an zu weinen.
„Heinz, das Drama geht noch weiter. Durch die obsessiven Griffbewegungen zum Smartphone opfern wir unbeabsichtigt echte, greifbare Nähe für eine scheinbar virtuelle Verbindung. In diesem unaufhaltsamen Tauschhandel riskieren wir den Verlust wertvoller sozialer Kontakte. Das echte Lächeln eines Freundes wird durch den Bildschirm ersetzt, die herzliche Umarmung durch Emojis abgeschwächt. Lehrer unterrichten Kids bald nur noch über Whatsapp. Die Konsequenzen dieses Handels sind nicht zu unterschätzen, und die Dramatik wird spürbar, wenn wir uns selbst in der einsamen Umarmung der virtuellen Welt wiederfinden.
Inmitten dieser tragischen Entwicklung wird klar, dass das Smartphone nicht nur unsere Hosen ausbeult, sondern auch die Substanz unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Es ist eine schmerzhafte Realität, die sich entfaltet, während wir uns weiter in die digitale Distanz vertiefen und den wahren Wert menschlicher Verbindungen verlieren.“
Heinz machte sich Gedanken. Was sollte er seiner Nichte antwortetn.
Überweisungen gehen natürlich grundsätzlich auch ohne Smartphone, auch wenn diese Veränderung mittlerweile vielen Menschen schwer fallen dürfte. Telefonieren kann man beispielsweise mit dem Festnetz-Telefon oder man nutzt ein älteres Handy-Modell, das lediglich die Grundfunktionen „Telefonieren“ und „SMS schreiben“ ermöglicht. Das Ticket kauft man in Papier-Form, für das Online-Banking nutzt man alternative TAN-Möglichkeiten – und bezahlen kann man auch mit Bargeld. Unmöglich ist es jedenfalls nicht, ohne Smartphone zurecht zu kommen. Aber es wird schwieriger.
Franziska entschied sich auf Heinz Anraten, nicht ständig alle Apps bei sich zu tragen – sei es für die Krankenkasse, die Sparkasse, Arzttermine, Bahnverbindungen und vieles mehr. In dieser Zeit breitete sich eine neue Betrugsmasche aus.
Diebe zielten auf Menschenmengen ab und durchstreiften die Stadt mit kleinen digitalen Scangeräten. Einer dieser Betrüger war Ede Saltup, der sich für 100 Euro ein digitales Kartenlesegerät besorgte. Besonders in der U-Bahn näherte er sich Passanten. Über Infrarot und Bluetooth entlockten diese mobilen Geräte den Handtaschen der Kunden unbemerkt 50 Euro von allen Kreditkarten. Schnell und unkompliziert. Niemand bemerkte etwas, erst bei der späteren Kreditkartenabrechnung. Bei einem Spaziergang durch die Straßenbahn erbeutete Ede Saltup so beinahe 1000 Euro.
Franziska war entschlossen, sich vor solchen Gefahren zu schützen. Sie lehnte nicht nur die Bequemlichkeit von Apps ab, sondern auch das Risiko von Betrügereien. Weder wollte sie sich einen Handynacken noch schlechte Augen einhandeln.
Als Gegenmaßnahme entschied sie sich für ein altes Klapp-NOKIA Telefon mit grüner Schrift und ließ ihr hochwertiges iPhone zu Hause. So ausgerüstet begab sich Franziska zur Straßenbahn, wo zu dieser Zeit immer noch Stempelkarten aus Pappe verwendet wurden.
Rentner Heinz Boddenstädt ging es blendend. Dank diverser Rabattaktionen konnte er sich sogar eine charmante Villa auf der Insel Baltrum leisten – so dachte er zumindest. Um die Nebenkosten zu stemmen, sammelte er weiterhin eifrig Rabattmarken, nun sogar online. Allerdings stellte sich das Einlösen als knifflig heraus, da auf Baltrum lediglich Fietes Frischebude und das Knusperhuuske existierten, ohne die Präsenz von Discountern. Ein monatlicher Flug zur VIP-Lounge auf Sylt war für Heinz die Rettung, denn dort konnte er immerhin seine Rewe- und Edeka-Punkte nutzen. Die festlich geschmückte VIP-Lounge irritierte ihn jedoch – war schon wieder Weihnachten? Das Sammeln von Rabatten auf Baltrum schien nicht auf Dauer tragbar zu sein. Doch das Schicksal meinte es gut mit Heinz.
In der VIP-Lounge, als er gerade seinen Mantel an der Garderobe aufhängte, betrat eine elegant gekleidete Dame das Lokal. Beim Versuch, ihren Pelzmantel auszuziehen, brach der Absatz ihres linken High-Heel-Schuhs ab, sie stürzte, und ihr Handy flog spektakulär ins Hummerbecken des Restaurants. Jetzt war Eile geboten. Das nagelneue iPhone 20 konnte gerade mal 24,5 Sekunden im Wasser überstehen, bevor der Akku den Geist aufgab. Heinz, ein Mann der Tat, sprintete zum Hummerbecken und rettete das Handy aus den Fangarmen des Hummers.
Die erleichterte Dame umarmte Heinz, als er ihr das gerettete Handy reichte. Das iPhone war in eine auffällige Blink-Blink-Hülle gehüllt, doch Heinz hatte keine Ahnung. Die Dame stellte sich vor: „Großer Held, mein Name ist Frieda vor dem Schluck. Dieses iPhone ist mit echten Brillanten und Edelsteinen besetzt, die mein Vorfahre Umbertus Sangesfried Ignatius dem Kaisertyrannen im Jahr 1334 abgeschwatzt hat. Als Dankeschön lade ich Sie heute Abend an meinen Tisch ein – ich bezahle!“
Heinz konnte sich diese großzügige Einladung nicht zweimal sagen lassen. Frieda vor dem Schluck entpuppte sich als Millionärin und erzählte ihm begeistert von ihrem Reichtum, der auf den Weihnachtsmärkten erwirtschaftet wurde.
Die Tradition vorweihnachtlicher Märkte reicht bis ins Mittelalter zurück, als sie primär der Versorgung dienten. Heutzutage steht das gesellige Beisammensein im Vordergrund, und Weihnachtsmärkte sind vor allem für ihre dichten Menschenmengen zwischen den Ständen bekannt. Aufgrund der Corona-Pandemie mussten die Menschen 2020 und 2021 weitgehend auf dieses Vergnügen verzichten, was eine Unterbrechung der Weihnachtsmarkt-Tradition darstellte – das letzte Mal geschah dies während des Zweiten Weltkriegs. Die meisten Märkte wurden aufgrund der Corona-Hygienevorschriften abgesagt. Seit 2022 finden die Weihnachtsmärkte jedoch wieder ohne Einschränkungen statt. Dennoch wird aufgrund der Energiekrise vielerorts bei der Beleuchtung und stromintensiven Attraktionen gespart.
Trotzdem steht der Freude an dampfendem Glühwein, dem Duft von gebrannten Mandeln, vielfältigen Speisen und liebevoll gestaltetem Kunsthandwerk nichts im Wege. Mancherorts wird wohl auch der Weihnachtsmann zu sehen sein, der Geschenke an die Kinder verteilt. Große Städte haben oft mehrere Märkte, die bereits vor dem ersten Advent bis kurz vor Heiligabend oder sogar darüber hinaus geöffnet sind. Auch viele kleinere Ortschaften oder Höfe veranstalten Weihnachtsmärkte, meist jedoch nur für einen oder wenige Tage.
Die Ursprünge der Weihnachtsmärkte im deutschsprachigen Raum reichen mehr als 600 Jahre zurück. Der Bautzener Wenzelsmarkt soll bereits 1384 stattgefunden haben, der Dresdener Striezelmarkt wird 1434 urkundlich genannt, und der Nürnberger Christkindlesmarkt oder der Augsburger Lebzeltermarkt existieren ebenfalls schon seit langer Zeit. Der Wiener „Wintermarkt“ geht sogar auf das Jahr 1382 zurück. Jedoch hatten die Märkte im Mittelalter wenig Ähnlichkeit mit den heutigen Vergnügungsveranstaltungen. Stadtbewohner deckten sich dort mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen für den Winter und das Weihnachtsfest ein. Neben Händlern erhielten auch Handwerker das Recht, ihre Waren anzubieten, darunter Korbflechter, Schuster und nach und nach auch Spielzeugmacher. Kuchenbäcker sorgten für das leibliche Wohl, und fahrende Musikanten sorgten oft für musikalische Unterhaltung.
Der Übergang von einem Versorgungsmarkt zu einem stimmungsvollen Vergnügen begann im 17. und 18. Jahrhundert. In dieser Zeit vollzog sich ein Wandel des Weihnachtsfests von einem rein religiösen zu einem bürgerlichen Familienfest. Geselliges Beisammensein und Geschenke für die Kinder gewannen an Bedeutung. Auf den vorweihnachtlichen Märkten gab es vermehrt Speisen, Getränke und Spielzeug. Der Brauch, Krippen aufzustellen, stammt ebenfalls aus dieser Zeit, wobei die ersten Krippen zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus Italien kamen. „Lebende Krippen“ mit Schafen, Ziegen und Eseln sind manchmal noch heute auf ländlichen Märkten zu finden.
Mit dem gesellschaftlichen Wandel durch die Industrialisierung änderten sich im 19. Jahrhundert auch viele Weihnachtsmärkte. Berichte über Zusammenstöße auf dem Berliner Weihnachtsmarkt weisen auf soziale Konflikte hin. Mit dem Aufkommen von Kaufhäusern ab 1920 verschwanden viele Waren von den Märkten, da sie in den Warenhäusern günstiger und in größerer Auswahl zu haben waren. Stattdessen erlebte die folkloristische Ausrichtung der Märkte einen Aufschwung. Tannenbäume und Lichter schufen eine gemütliche Atmosphäre, und traditionell gestaltete Buden sowie feierliche Zeremonien und Musik bestimmten zunehmend das Geschehen. Einige katholische Gegenden hielten jedoch an der Tradition fest, die Adventszeit als Fastenzeit zu betrachten.
Und wer Michel aus Lönneberga gesehen hat, weiß, wie enthaltsam die Adventszeit war, weil dann Weihnachten alles auf den Tisch kam.
In Deutschland finden mittlerweile jährlich mehr als 2.500 Weihnachtsmärkte statt, wobei der Leipziger Weihnachtmarkt mit seinen rund 300 Ständen als einer der größten des Landes gilt. Neben den imposanten Weihnachtsmärkten mit Hunderten von Buden und einem vielfältigen Rummelangebot, einschließlich Fahrgeschäften und Eisbahnen, entstehen auch immer mehr kleine Märkte. Diese finden beispielsweise in städtischen Hinterhöfen oder auf abgelegenen Gutshöfen statt und tragen Namen wie Weihnachtsmarkt, Christkindlmarkt oder Adventsmarkt. In Zeiten, in denen die christliche Tradition in den Hintergrund tritt, gewinnt auch die Bezeichnung Wintermarkt zunehmend an Bedeutung.
Der Trend geht zu historisch anmutenden Ständen, einem mit Rindenmulch ausgelegten Boden und traditionellem Kunsthandwerk. Neben dem obligatorischen Glühwein bieten diese Märkte – neben regionalen Spezialitäten – auch immer noch Lebkuchen oder Zuckerwatte. Weihnachtliche Blasmusik und frisch gebackene Waffeln gehören für viele Besucher zum festlichen Erlebnis. Allerdings steht nicht mehr der Messias Jesus im Mittelpunkt.
Ein beeindruckendes Beispiel ist die begehbare Weihnachtspyramide auf dem Rostocker Weihnachtsmarkt, die mehr als 20 Meter hoch ist. Über drei Kilometer erstrecken sich Buden und Attraktionen durch die Innenstadt. Doch auch in Bielefeld sollte eine Weihnachtspyramide stehen, dachte Heinz. Was ihm die feine Dame, Frieda vor dem Schluck, wohl mitteilen möchte?
„Heinz“, begann die Millionärin, „ich wurde mit Glühwein zur Millionärin. Jeder Deutsche trinkt im Jahr einen halben Liter Glühwein.“ Frieda vor dem Schluck schien alle Geheimnisse zu kennen. Sie entstammte einer Glühwein-Dynastie und behauptete, den Markt zu beherrschen. „Damit erreichen wir eine Abdeckung von 90 Prozent“, erklärte sie stolz. In der dritten Generation führt Frieda vor dem Schluck die gleichnamige Weinkellerei Schluckenried. Ihr Großvater Franz erlangte in den 1960er Jahren mit einer Branntweinfabrik und einem Stand auf dem Fürther Christkindles-Markt den Durchbruch. Seitdem ist der berühmte Weihnachtsmarkt ohne ihr Heißgetränk undenkbar. Aufgrund des größeren Platzangebots in Nürnberg verlegte Frieda vor dem Schluck ihre Firmenzentrale in die Frankenmetropole.
Der Erfolg beruht auf einer geheimen Rezeptur und großen Mengen preiswerten Rotweins, vorwiegend aus Italien. Die genaue Menge an Glühwein, die jährlich die Produktionsanlagen am Nürnberger Hafen und in einer brandenburgischen Dependance verlässt, bleibt Frieda vor dem Schluck schuldig. Schätzungen gehen jedoch von über 50 Millionen Litern aus, die sie europaweit unter verschiedenen Markennamen verkauft.
Doch warum hat Glühwein einen so schlechten Ruf? Ein Grund liegt in der EG-Verordnung 251/2014, die genau regelt, was in einen Glühwein gehört und was nicht. Dennoch ermöglicht die Verordnung den Einsatz von Aromen und Zucker, ohne dass sie deklariert werden müssen. So enthält der Großteil der handelsüblichen Glühweine keine echten Kräuter oder Gewürze. Frieda vor dem Schluck erzählte von ihrem ersten Kunden aus Hamburg, Bernd Hagenbrunn, der im Weihnachtsgeschäft eine zentrale Rolle spielt.
Bernd Hagenbrunn ist seit 40 Jahren im Schausteller-Geschäft tätig und betreibt Imbiss- und Getränkebuden auf verschiedenen Festen und Märkten. Auf einem der Weihnachtsmärkte in der Hamburger City besitzt er alle 65 Stände und weitere 34 Buden in der Fußgängerzone. Eine ausgeklügelte Mischkalkulation ist erforderlich, wobei der Glühwein eine zentrale Rolle spielt. Hagenbrunn erhält den Glühwein von einem Großhändler für 1,30 bis 1,35 Euro pro Liter und verkauft ihn im Hamburger Winterwald für vier Euro pro 0,2-Liter-Henkelbecher, was einer Marge von über 1000 Prozent entspricht. Die Standmiete für einen Glühweinausschank beläuft sich angeblich auf über 20.000 Euro für vier Wochen. Bernd Hagenbrunn musste nur sechs Wochen im Jahr arbeiten. Das reichte für sechs Monate Teneriffa.
Die Geschäftsidee von Frieda vor dem Schluck inspirierte Heinz. Die Unternehmerin schlug vor, dass er ihre Lizenz für den Weihnachtsmarkt in Bielefeld übernehmen könnte. Da die Stadt nicht existiert, könne er die Lizenz haben. Frieda vor dem Schluck, Mitglied einer Glühwein-Dynastie, riet ihm jedoch, es mit Flammkuchen zu versuchen, da die Gewinnmarge noch höher sei. Sie warnte jedoch davor, an der Bude etwas mit „Jesus ist geboren“ zu schreiben, da dies den Umsatz beeinträchtigen könnte. Heinz wusste nun, was zu tun war.