Baum

L.Credi stand kurz vor den wohlverdienten Ferien. Sie begleitete mich schon seit vielen Jahren, und ich kannte sie als eine leidenschaftliche Lehrerin, die stets bemüht war, den Schülern aus dem nördlichen Bielefeld etwas beizubringen. Doch die Ferien kamen jedes Jahr viel zu früh, das war L.Credis bittere Realität.

Früher nannte man sie einfach Lehrerin, aber heutzutage könnte man sie wohl eher als Überlebenskünstlerin, Alleinunterhalterin oder Dompteuse bezeichnen. L.Credi hatte für ihre Klasse sogar einen eigenen Youtube-Kanal eingerichtet. Dort lud sie jeden Morgen Übungen hoch, vom Silben-Rap bis hin zu Anleitungen, wie man einen Bleistift anspitzt oder einen Fruchtzwerg öffnet, ohne den Nachbarn dabei zu bespritzen. So hatte sie zumindest die ersten 10 Minuten in der Grundschule etwas Zeit für sich, während ihre Schüler den Schulkanal auf ihren iPads ansahen.

An diesem Morgen öffnete L.Credi die Tageszeitung, die der käferfahrende Postbote Karl immer pünktlich in den ländlichen Stadtteil brachte. Doch plötzlich stolperte sie über eine Meldung, die ihre Aufmerksamkeit gefangen nahm. Sie musste weinen.

Für die Menschen in der Stadt wird die Hitzebelastung von Jahr zu Jahr bedrückender, eine unerbittliche Hitzewelle, die ihre Lebensqualität bedroht. Jeder Tag scheint eine neue extreme Herausforderung zu sein, eine Tortur unter der brennenden Sonne. Und doch wird das Ausmaß dieser Qual in den kommenden Jahrzehnten noch schlimmer werden, eine düstere Vorahnung der Zukunft, die uns das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Schaut man auf das Beispiel der pulsierenden Metropole München, so sind die Zahlen alarmierend. Derzeit müssen die Bewohner bereits durchschnittlich 8,4 Hitzetage im Jahr ertragen, an denen die Temperaturen jenseits der 30-Grad-Marke explodieren. Doch in einer Welt, die von Klimawandel und Zerstörung gezeichnet ist, könnte diese Zahl bis zum Jahr 2100 um das Fünffache anschwellen. Ja, ihr habt richtig gehört – sage und schreibe 44 Tage, an denen die Luft vor Hitze flimmert und jeder Atemzug zur Qual wird.Und erst in Bielefelds Zentrum, der Jahnplatzwüste.

Doch nicht nur die Tage werden zu einer unerträglichen Glut, auch die Nächte bergen keine Rettung mehr. Einst gab es nur fünf tropische Nächte, in denen die Lufttemperatur nicht unter 20 Grad Celsius sank. Doch in den kommenden vier Jahrzehnten könnten es schwindelerregende 14 dieser qualvollen Nächte werden, in denen Schlaf zu einer fernen Erinnerung verblasst.

In dieser verheerenden Hitze sind Bäume unsere einzige Zuflucht. Sie erheben sich wie stolze Krieger gegen die unerbittliche Sonne und kämpfen darum, uns Linderung zu verschaffen. Ihre Blätter erzählen von einer anderen Welt, in der Verdunstungskühle das Wort führt und Schatten wie ein heiliger Tempel der Erfrischung wirkt. Unter ihren schützenden Zweigen sinkt die Temperatur um ein bis zwei Grad, doch in ihrer schattigen Umarmung fühlt es sich an, als wäre man in einer Oase der Kühle gefangen.

Doch Bäume sind nicht allein in ihrem Kampf gegen die Hitze. Rasenflächen und begrünte Dächer schließen sich ihnen an, schaffen Verdunstungskühle und bringen eine Ahnung von Frische in diese stickige, von Beton geprägte Umgebung. Große, offene Grasflächen werden zu Bollwerken gegen die nächtliche Wärme, absorbieren weniger Hitze und lassen die Luft sich in den kühlen Stunden der Dunkelheit besser abkühlen als die vom Laub der Bäume beschützten Wege. Es ist eine fragile Balance, eine kunstvolle Mischung aus Bäumen und Rasen, die in den Freiräumen der Stadt geschaffen werden muss.

Um den Ernst der Lage zu verdeutlichen, wurden zwei dicht besiedelte Stadtviertel unter die Lupe genommen. Eine schonungslose Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Hitzehölle und ein beängstigender Blick in die Zukunft. Derzeit werden lediglich zehn Prozent der Fläche von wohltuendem Grün bedeckt.

Die schockierenden Zahlen lassen keinen Zweifel daran, dass wir handeln müssen, um unsere Städte vor der zunehmenden Hitzelast zu schützen. Nach Berechnungen müssen wir den Anteil von Grünflächen drastisch erhöhen, auf 20 bis 25 Prozent, um den Sommer selbst im Jahr 2050 noch erträglich zu gestalten. Doch steht uns dieser Kampf gegen die Hitze vor großen Herausforderungen.

Der Platz für mehr Grün ist grundsätzlich vorhanden, zumindest in der Theorie. In der Realität jedoch wird dieser Raum von Parkplätzen eingenommen oder ist dem fließenden Verkehr gewidmet. Wenn wir tatsächlich begrünen wollen, müssen wir diese Bereiche drastisch reduzieren. Die drängendste Aufgabe in unseren Innenstädten besteht darin, Autos mit Bäumen zu ersetzen, eine Verwandlung, die von Mut und Entschlossenheit zeugt.

Gleichzeitig müssen wir jedoch auch im Untergrund Platz schaffen, um den Wurzeln der Bäume Raum zu geben. Doch das ist keine einfache Aufgabe, denn unter unseren Straßen verlaufen die essentiellen Infrastrukturen für Abwasser, Gas, Strom, Internet und Telefon. Es ist ein mühseliger Prozess, der nicht von heute auf morgen bewältigt werden kann. Wir müssen behutsam vorgehen, um sicherzustellen, dass diese essenziellen Dienste weiterhin reibungslos funktionieren und dennoch Raum für das Wachstum der Bäume geschaffen wird.

Es liegt auf der Hand, dass dieser Prozess eine enorme Anstrengung erfordert, sowohl von den städtischen Planern als auch von der Bevölkerung. Wir müssen den Mut aufbringen, traditionelle Denkweisen und Gewohnheiten herauszufordern und uns für eine nachhaltige und klimaresistente Zukunft einzusetzen. Es ist eine Herausforderung, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf, aber unausweichlich ist, wenn wir unsere Städte für die unaufhaltsame Wucht des Klimawandels rüsten wollen. Nur so können wir ein Stückchen Kühle und Hoffnung inmitten der Hitze und Verzweiflung bewahren.

L.Credi hatte einen kühnen Plan, wie sie das neue Schuljahr in Angriff nehmen würde. Noch lagen 77 Jahre bis zum Jahr 2100 vor ihr, und sie war fest entschlossen, ein stolzes Alter von 127 Jahren zu erreichen. Dank der Wunder der Telemedizin, implantierten Chips in ihrem Gehirn und Herzen sowie einer strengen veganen Ernährung, glaubte sie fest daran, dass dieses Ziel erreichbar war. Sie würde es schaffen, doch der Beginn lag in der Gegenwart.

Ursprünglich hatte L.Credi vor, den Erstklässlern das Lesen und Schreiben beizubringen. Doch fast die Hälfte der Schüler sprach Türkisch, Kreolisch, Schwedisch, Ukrainisch und sogar Klingonisch. Das Lesenlernen schien eine schier unüberwindbare Hürde zu sein. In Anbetracht dessen beschloss L.Credi, mit dem machtvollen Wort „Baum“ anzufangen. Sie wollte einen Samen in die zarten Herzen der Kinder pflanzen, denn sie würden die Zukunft formen. Das Wort „Baum“ erwies sich als perfekte Wahl. Es begann mit dem erhabenen Konsonanten „B“, der wie ein Paukenschlag wirkte. Das „B“ stand für Bielefeld, es war der Anfang eines großen Vorhabens. In der Mitte des Wortes offenbarte sich ein geheimnisvoller Silbenkönig. Die Kombination „au“ barg Vokale, Zwielaut und sogar Schmerzenslaute. Es war eine Verbindung von Stärke und Leiden. Und am Ende erhob sich das „M“ wie eine triumphale Fanfare. Das „M“ stand für Mutter, für das gewundene Mäandern des Lebens und für den süßen Geschmack der Malzdextrose.

L.Credi wollte Bäume pflanzen. In mehr als 70 Jahren würden diese Bäume zu imposanten Gestalten heranwachsen und die Stadt mit ihrem kühlenden Schatten erfüllen. Sie bat die Eltern der neuen Erstklässler, zum Schulanfang einen Samen eines typischen Baumes aus ihrer Heimat mitzubringen. Schnell hatte sie eine bemerkenswerte Sammlung von Samen zusammengetragen, von majestätischen Affenbrotbäumen bis hin zu stolzen Dattelpalmen und exotischen Gummibäumen. Selbst Eichen hatten ihren Weg in ihre Obhut gefunden. So würde ein wahrhaftig einzigartiger Wald entstehen, der über verschiedenste Klima- und Vegetationszonen hinweg seine Arme ausbreitete.

L.Credi hatte sich 100 Quadratmeter inmitten der pulsierenden Innenstadt gesichert, um dort die zarten Setzlinge einzupflanzen. Mit ihrer Bewegung, die als „Zuhaitza“ bekannt wurde, entfachte sie eine Flammenwoge, die sich mit „Fridays for Future“ vereinte und um die ganze Welt fegte. „Zuhaitza“ – ein Wort, das auf Baskisch Baum bedeutete – wurde zum Symbol des Kampfes gegen den Klimawandel und zur unverkennbaren Stimme für die unersetzliche Bedeutung der Bäume in unserer Zukunft. 

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