Schlange

Anselm Panstedt konnte seinen Beruf als Energieberater nicht mehr ausüben, nachdem sein Gehirnchip einen Kurzschluss erlitten hatte. Er war aus der Bahn geworfen, aber nicht untätig und passiv. Als er einen Termin beim Neurologen hatte und trotzdem zwei Stunden beim Arzt warten musste, kam ihm eine neue Idee. Ob für Konzertkarten oder ein neues Smartphone: Es gibt Dinge, für die stehen Menschen stundenlang Schlange – oder zelten sogar. Wer das nicht will,s ollte sich vielleicht einen professionellen Schlangensteher mieten. Das ist das Schöne an solchen Szenarien:

– Es gibt nur noch wenige Karten für ein besonderes Event.

– Ein neues, begehrtes Produkt kommt auf den Markt

– Sehenswürdigkeiten, für die man lange anstehen muss, wie der Petersdom im Vatikan

– In Disneyland gibt es eine neue Attraktion.

Zeit ist ein knappes Gut, und bevor wir selbst stundenlang untätig in der Schlange stehen, könnte das jemand anderes für uns erledigen. Anselm hat eine App entwickelt, in die man eintragen kann, für wie lange man wo jemanden braucht – und wenn es ein „Match“ gibt, dann gibt es einen Wächter für meinen Platz in der Schlange.

Anselm nimmt 30 Euro pro Stunde. Wenn es länger dauert, gibt es auch Tagespauschalen, die je nach Anbieter zwischen 600 und 800 Euro pro Tag liegen. Bei schlechtem Wetter wird es teurer. In den USA gibt es jedes Jahr mehr als 30 Milliarden Stunden Wartezeit.

Und Anselm sah gut aus, hatte immer einen Stuhl in der Schlange, studierte den Brockhaus und war braun gebrannt. Auf seinem Tablet organisierte er die nächsten Termine.Und er wurde immer öfters gebucht.

Er war der erste, der es seinem gut betuchten Kunden Hans Müller ermöglichte, sich in das Kondolenzbuch für Queen Mum einzutragen. Müller war der Erste, der US-Präsident Donald Trump zu seiner Wahl gratulierte. Er war der erste, der mit Wladimir Putin einen ukrainischen Wodka trank.

Das Warten in der Notaufnahme oder in der Arztpraxis war für viele ein Problem. Anselm konnte nun über die App einen Termin vereinbaren. Er saß dann im Wartezimmer und wenn er aufgerufen wurde, gab es eine Push-Mail an den Kunden. Da man in der Regel immer noch im Sprechzimmer des Arztes warten muss, schafften es die Patienten.

Neu war auch das Warten in der Callcenter-Warteschleife. Hier berechnete Anselm 50 Euro für ein Beratungsgespräch, um die persönlichen Daten des Kunden aufzunehmen. Dann rief er das Callcenter an. Auch dafür bekam er pauschal 50 Euro. Später noch einmal 50 Euro, um dem Kunden die Lösung zu präsentieren.

Dann baute Anselm sein Geschäft in Italien auf. Sein Geschäftspartner wurde Giovanni Giuli

Etwa 400 Stunden pro Jahr steht jeder Italiener in Warteschlangen. Dies hat sich Giovanni Giuli zunutze gemacht.20  Euro pro Stunde zahlen ihm Leute, die keine Lust auf nerviges Anstehen haben.

Flanellmantel, Nadelstreifen, Krawatte, eine elegante Aktentasche und die Brille mit leichtem Stahlgestell: Für einen Anwalt oder Steuerberater würde man Giovanni Giuli halten, wenn man in einem Mailänder Postamt neben ihm in der Schlange steht. Die ist sehr lang, und die Nummer auf seinem Ticket verheißt nichts Gutes – noch 26 Kunden sind vor uns dran. Trotzdem gibt sich Giovanni Giuli geduldig, lächelt höflich und winkt sogar ab, als die Dame hinter dem Schalter ihn mit einem Handzeichen nach vorne durchwinken will. Warum?! „Ich wär ja blöd!“, sagt er. „Ich verdiene doch gutes Geld dafür.“ Wofür? „Fürs Schlangestehen.“

20 Euro pro Stunde zahlen ihm Leute, die keine Lust oder Zeit haben, Stunden oder sogar Tage in Post, Bank und Ämtern zu verbringen. Giovanni Giuli ist der erste professionelle „Codista“, der Schlangesteher Italiens.

Das Wort „Codista“ kommt von Coda, Schlange, und die sind in Italien gefürchtet. „Die Schlange am Schalter ist deine? Ab heute ist sie meine“, lautet Giovanni Giuli’s Slogan, seit er vor zwei Jahren diesen Job übernommen hat. Er brummt und das ist kein Wunder. Schlangestehen kostet die Italiener 40 Milliarden Euro.

Statistiken zeigen, dass jeder Italiener rund 400 Stunden im Jahr in der Schlange steht, um einen neuen Pass, einen Einschreibebrief, eine ärztliche Bescheinigung oder einen Führerschein zu bekommen.

Unternehmen müssen ihre Mitarbeiter im Schnitt 269 Stunden oder rund 34 Arbeitstage damit beschäftigen, Gebühren oder Steuern bei Behörden zu bezahlen – mehr als doppelt so viel wie in Frankreich oder Großbritannien. Am schlimmsten ist es in den Ämtern der Hauptstadt Rom. Fast die Hälfte der Bürger muss mindestens 20 Minuten an den Schaltern warten. Banken, Versicherungen und Ämter aller Art bieten zwar auch in Italien Online-Dienste an, „aber viele ältere Menschen nutzen sie noch nicht“, sagt Giovanni Giuli. Und bei kniffligen Fragen müsse man auch heute noch persönlich zum Schalter gehen.

Jetzt schult er auch. Nach Anfragen „aus ganz Italien“ hat er einen Kurs organisiert, den er per Skype anbietet. Für 500 Euro lernen die Neulinge die richtigen Umgangsformen, aber auch, wie man ein Formular ausfüllt, auf welchen Ämtern man welche Regeln beachten muss, welche Rechte und Pflichten ein Bürger am Schalter hat. Oft seien die Schalterbeamten nicht richtig geschult – „dann muss man sich eben selbst helfen können“.

Und jedesmal verdient der Bielefelder Anselm Panstedt mit. 2024 wird er an die Börse gehen. Anselm hatte es geschafft. Anfragen aus aller Welt lagen vor.

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten