Schulpost

Hasso stand mit seinem gelben Dienstfahrrad vor der Grundschule Hasenfrisch, als hätte man ihn dort festgenagelt, und strich den nassen Schnee von den Schulterklappen, der sich anfühlte wie kalte Asche auf seiner Jacke. In der Lenkertasche steckte der Umschlag vom Schulamt, schwer wie ein Urteil, der Stempel scharfkantig in Blau: „Letzte Schulpost – nur in Papierform“.

Im Lehrerzimmer roch es nach abgestandenem Lehrerkaffee und nach Papier, das schon zu viele Durchläufe durch den Kopierer hinter sich hatte. Hasso stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf, ein Windstoß Schnee im Rücken, und für einen Moment schien der Raum den Atem anzuhalten. Hinter einem schiefen Turm aus Matheheften tauchte L. Credi auf – die Lehrerin, die Füller verteidigte wie andere ihre Doktorarbeit, deren Bielefeld‑Geschichten aus der DAF‑DAZ‑Gruppe auf der Schulhomepage hingen, während der Server sich gerade mit Zertifikatsfehlern selbst sabotierte.

„Frau L. Credi, Sonderzustellung vom Schulamt“, sagte Hasso leiser, als er wollte, und legte den Umschlag vor sie hin, als lege er ein letztes Exponat in eine Vitrine, die danach verriegelt würde. „Vielleicht der letzte Brief dieser Art, bevor auch die Schulpost nur noch als Dateianhang existiert.“ Das Papier schabte hörbar über die Tischplatte; selbst der Getränkeautomat im Flur verstummte in diesem Augenblick in seinem Brummen.

Gemeinsam öffneten sie den Umschlag. Das Papier darin war schwer, fast trotzig gegen jede Cloud, und trug den glatten Text der Behörde: vollständige Umstellung auf ein digitales Portal, Papierpost nur noch als Erinnerung im Archiv. „Ab nächstem Schuljahr keine Papierpost mehr, alle Mitteilungen ausschließlich online“, las L. Credi und strich mit den Fingerspitzen langsam über den Stempel, als könnte sie ihn in die Haut einbrennen für Zeiten, in denen es keine Tinte mehr geben würde.

„Merkwürdig“, murmelte sie, und ihre Stimme klang brüchiger als eben noch, „die Kinder üben mühsam ihre Schreibschrift, und das Schulamt schickt uns in eine Welt ohne Umschläge.“ Hasso nickte, aber in ihm zog es sich zusammen: In seinem Kopf flackerte schon das Bild eines neuen Vitrinenfachs auf – „Schulbriefe – wenn Eltern noch Zettel aus den Ranzen fischten“ –, und zum ersten Mal fragte er sich, ob seine Ausstellung nicht in Wahrheit ein Museum für Sterbendes war.

„Wissen Sie was, Herr Hasso“, sagte L. Credi plötzlich, und in ihrem Blick lag etwas zwischen Trotz und Müdigkeit, „wir machen ein gemeinsames Projekt. Sie mit Ihrer Briefausstellung, ich mit meinen Krikelkrakel‑Texten aus der 1. Klasse und meinen Musiktexten.“ Sie hielt kurz inne, als überlege sie, ob sie den nächsten Satz wirklich laut sagen dürfe. „Ich schreibe nämlich heimlich Songs. Über genau solche Momente.“

Die Idee stand sofort im Raum, greifbar wie Kreidestaub: Jedes Kind sollte einen echten Brief an jemanden schreiben, der ihm wirklich fehlte oder wichtig war – an Oma in Senne, den Cousin in Ecuador, den unsichtbaren Vater, der nur noch als Name in der Akte stand, oder den Nachbarn im dritten Stock, der nie aus dem Fenster schaute. Hasso würde diese Briefe in seiner Zustelltour einsammeln, in seiner gelben Tasche wie kleine, flackernde Notlichter verstauen und zustellen, bevor das Schulamt die digitale Schranke endgültig herunterließ.

„Ein letztes Schulpost‑Experiment in analog“, nannte sie es und schrieb den Satz mit hart aufgedrücktem Kugelschreiber in ihr Notizheft, so dass sich die Rille sicher noch auf der nächsten Seite abzeichnete. Sie nahm sich vor, später einen Text darüber in den Lehrer‑Chat zu stellen – falls der Server sich bis dahin beruhigte und die Zertifikatswarnungen nicht wieder alles blockierten.

Hasso spürte dieselbe Wärme wie damals bei Björns Brief, aber heute mischte sich etwas wie Dringlichkeit darunter, fast Panik. Vielleicht, dachte er, waren diese Umwege über Papier nicht nur romantische Restbestände, sondern die letzten Brücken, bevor jeder nur noch auf Bildschirme starrte und Nachrichten wie Rauch verflogen. Und während draußen der Schnee dichter wurde und die Pausenglocke schrillte, hielt er die Hand kurz auf den Umschlag mit dem Stempel „Letzte Schulpost“ – als müsste er sich vergewissern, dass man Geschichte nicht nur liest, sondern in diesem Moment gerade mitschreibt.

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