Casting

Jan Grabowski stand hinter dem schwarzen Vorhang der kleinen Aula, als könnte der Stoff ihn vor allem schützen, was gleich passieren würde. Die Bühne roch nach Staub, kaltem Licht und altem Holz – und nach dieser seltsamen Mischung aus Nervosität und Haarspray, die bei Castings immer in der Luft hing. Vorne probte der Tenor gerade seine hohe Stelle, die Begleitstimme des Klaviers klang durch die Lautsprecher, und jedes Mal, wenn die Gruppe ihren Einsatz verpasste, zuckte Jans rechter Fuß, als müsse er weglaufen.

Er war der dritte Bass in der A‑cappella‑Gruppe, der tiefe Teppich unter den Melodien der anderen. Normalerweise konnte er sich hinter den Stimmen der Kollegen verstecken, ein sicherer Grundton, den niemand sah, aber alle brauchten. Heute war alles anders: Das Casting sollte entscheiden, wer bei den nächsten Konzerten in Bielefeld auftrat – und wer nur noch als Name in einer WhatsApp‑Gruppe existierte. In den Mails stand es nüchtern, fast harmlos formuliert, doch Jan hörte darin ein Echo: „Wir müssen professioneller werden.“

Sein Handy vibrierte. Eine Nachricht von L. Credi, der Lehrerin, die er von der Grundschule Hasenfrisch kannte. Sie hatte in einer kleinen, experimentellen Telegram‑Gruppe heimlich ihre eigenen Songs geteilt, und dort hatten sie sich kennengelernt – sie nannte ihn damals „den Bass, der so tief singen konnte, dass sogar die Pausenklingel kurz leiser wurde“. Er hatte gelacht – damals. Jetzt las er ihre Nachricht immer wieder: „Jan, du bist nicht nur Stimme Nr. 3. Du bist der Boden, auf dem die anderen landen, wenn sie oben danebentreten. Atmen. Dann singen.“

„Nächster! Jan Grabowski!“ Die Tür zur Bühne sprang auf, das Licht dahinter blendete ihn. Drei Gesichter in der ersten Reihe, dahinter eine Handvoll anderer Sänger. In der Mitte saß Ciano Galetto, der Theaterleiter, der angeblich immer auf der Suche nach „echten Stimmen“ war.

Jan setzte an, sang „Evening Lights in Bielefeld“, tiefer und mutiger, als er es jemals in der Probe gewagt hatte. Die Stille nach dem letzten Ton war schwer, dann kam verhaltener Applaus. Der Chorleiter trat vor, das Klemmbrett in der Hand wie ein Urteilsspruch.

„Jan“, begann er, und das Wort klang schon wie eine Absage, „deine Tiefe ist stark, aber du passt nicht mehr in das Konzept, das wir verfolgen. Wir brauchen flexibel einsetzbare Stimmen, Solopotenzial, mehr Show. Du kannst gern weiter zuhören – aber als Sänger bist du raus.“

„Raus… wie meinst du das?“ Jans Stimme rutschte eine Nuance nach oben.

„Hochkant“, sagte der Chorleiter kühl. „Ab sofort bist du nicht mehr Teil der Gruppe.“

Der Satz traf härter als jeder schiefe Ton. Die WhatsApp‑Gruppe blieb, Jan nicht. In seinem Kopf flackerte L. Credis Nachricht auf, aber sie war jetzt eher Trostpflaster als Rettungsring. Er nickte stumm, nahm seine Mappe, verließ die Aula. Ciano Galetto sah ihm nach, den Kopf leicht schiefgelegt, sagte jedoch nichts. Noch nicht.


Drei Wochen später roch es nicht mehr nach Staub und Haarspray, sondern nach gebrannten Mandeln, Glühwein und nassen Wollschals. Der Weihnachtsmarkt in Bielefeld vibrierte vor Stimmen, Kinderlachen und dem ewigen Scheppern des Karussells. Jan stand mit seiner alten, leicht verkratzten Verstärkerbox am Rand des Platzes, dort, wo der Wind durch die Gassen pfiff und die Menschen trotzdem stehenblieben, wenn eine Stimme sie traf.

Er hatte lange überlegt, ob er sich wirklich auf die Straße stellen sollte. Ein ehemaliger dritter Bass, hochkant rausgeschmissen, jetzt vor Buden und Lichterketten? Aber irgendetwas in ihm hatte sich geweigert, leise zu werden, nur weil ein Chorleiter „Konzept“ gesagt hatte. Also programmierte er eine Loopstation, nahm ein paar tiefe Bass‑Teppiche auf und legte darüber seine Stimme – Solo, zum ersten Mal wirklich allein.

Er sang wieder „Evening Lights in Bielefeld“, diesmal nicht als Bewerbung, sondern als eigenes Lied. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in den Pfützen, Menschen blieben stehen, drehten sich um, schoben ihre Handys in die Luft. Eine Frau filmte von Anfang bis Ende. Ein Kind setzte sich auf den Boden, nur um besser zuhören zu können. Jan spürte, wie seine Stimme zwischen den Buden hochstieg, sich an den Lichterketten brach und zurückkam, wärmer, sicherer.

Am Rand des Platzes stand ein Mann im dunklen Mantel, Schal locker, Hände in den Taschen. Ciano Galetto. Er hatte den Bass wiedererkannt, obwohl der Raum nun Himmel war und nicht Aula. Neben ihm stand jemand vom Stadtmarketing, der längst mit dem Stadtschreiberling‑Projekt vernetzt war.

„Der da“, sagte Ciano ruhig, „der wurde hochkant rausgeschmissen? Besorgen Sie mir seinen Namen. So eine Stimme verschenkt man nicht. Die stellt man mitten auf eine Bühne.“

Am Abend ging ein Video von Jans Straßenmusik viral: „Bass auf dem Bielefelder Weihnachtsmarkt – Gänsehaut pur“. Ein lokaler Radiosender teilte es, dann ein Kulturblog, dann die Seite stadtschreiberling.de mit der Überschrift: „Wie man einen dritten Bass unterschätzt – und er dann die Stadt einsingt.“

Es dauerte keine zwei Monate, bis Jan mit Ciano Galetto im Foyer des Theaters Bielefeld stand und einen Vertrag unterschrieb. Erst für ein experimentelles Musiktheaterstück, dann für eine kleine Tourproduktion. Das Weihnachtsmarkt‑Video brachte ihm nicht nur Auftritte, sondern auch Streaming‑Einnahmen, Sponsoring und eine Kooperation mit einer großen Plattform. Die Geschichte vom „hochkant rausgeschmissenen Bass, der auf dem Weihnachtsmarkt anfing“ wurde zur Legende – und zur Marke.

Drei Jahre später stand Jan vor einem Publikum, das nicht mehr zwischen Aula und Marktplatz unterscheiden musste, weil sein Name nun auf Plakaten stand. Er war längst kein dritter Bass mehr, sondern Kopf eines eigenen Vocal‑Projekts, hatte Anteile an den Produktionen, Lizenzen an seinen Songs und mehr Geld auf dem Konto, als er sich je hatte vorstellen können. Die Leute sagten „Millionär“ über ihn, halb bewundernd, halb ungläubig, wenn wieder ein Artikel erschien: „Vom Rauswurf zum Weihnachtsmarkt – und von dort auf die großen Bühnen.“

Abends, wenn er durch den Weihnachtsmarkt ging – jetzt eher inkognito, mit Mütze tief im Gesicht –, blieb er manchmal bei genau der Ecke stehen, an der er das erste Mal gesungen hatte. Dann summte er leise, fast nur für sich, den Anfang von „Evening Lights in Bielefeld“ und dachte daran, dass sein Leben genau dort begonnen hatte, wo ihn einer hochkant rausgeworfen hatte. Und dass es vielleicht keinen dramatischeren Anfang für eine Erfolgsgeschichte gibt, als einen kalten Abend, eine wackelige Box und den Mut, trotzdem den ersten Ton zu singen.

Schulpost

Hasso stand mit seinem gelben Dienstfahrrad vor der Grundschule Hasenfrisch, als hätte man ihn dort festgenagelt, und strich den nassen Schnee von den Schulterklappen, der sich anfühlte wie kalte Asche auf seiner Jacke. In der Lenkertasche steckte der Umschlag vom Schulamt, schwer wie ein Urteil, der Stempel scharfkantig in Blau: „Letzte Schulpost – nur in Papierform“.

Im Lehrerzimmer roch es nach abgestandenem Lehrerkaffee und nach Papier, das schon zu viele Durchläufe durch den Kopierer hinter sich hatte. Hasso stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf, ein Windstoß Schnee im Rücken, und für einen Moment schien der Raum den Atem anzuhalten. Hinter einem schiefen Turm aus Matheheften tauchte L. Credi auf – die Lehrerin, die Füller verteidigte wie andere ihre Doktorarbeit, deren Bielefeld‑Geschichten aus der DAF‑DAZ‑Gruppe auf der Schulhomepage hingen, während der Server sich gerade mit Zertifikatsfehlern selbst sabotierte.

„Frau L. Credi, Sonderzustellung vom Schulamt“, sagte Hasso leiser, als er wollte, und legte den Umschlag vor sie hin, als lege er ein letztes Exponat in eine Vitrine, die danach verriegelt würde. „Vielleicht der letzte Brief dieser Art, bevor auch die Schulpost nur noch als Dateianhang existiert.“ Das Papier schabte hörbar über die Tischplatte; selbst der Getränkeautomat im Flur verstummte in diesem Augenblick in seinem Brummen.

Gemeinsam öffneten sie den Umschlag. Das Papier darin war schwer, fast trotzig gegen jede Cloud, und trug den glatten Text der Behörde: vollständige Umstellung auf ein digitales Portal, Papierpost nur noch als Erinnerung im Archiv. „Ab nächstem Schuljahr keine Papierpost mehr, alle Mitteilungen ausschließlich online“, las L. Credi und strich mit den Fingerspitzen langsam über den Stempel, als könnte sie ihn in die Haut einbrennen für Zeiten, in denen es keine Tinte mehr geben würde.

„Merkwürdig“, murmelte sie, und ihre Stimme klang brüchiger als eben noch, „die Kinder üben mühsam ihre Schreibschrift, und das Schulamt schickt uns in eine Welt ohne Umschläge.“ Hasso nickte, aber in ihm zog es sich zusammen: In seinem Kopf flackerte schon das Bild eines neuen Vitrinenfachs auf – „Schulbriefe – wenn Eltern noch Zettel aus den Ranzen fischten“ –, und zum ersten Mal fragte er sich, ob seine Ausstellung nicht in Wahrheit ein Museum für Sterbendes war.

„Wissen Sie was, Herr Hasso“, sagte L. Credi plötzlich, und in ihrem Blick lag etwas zwischen Trotz und Müdigkeit, „wir machen ein gemeinsames Projekt. Sie mit Ihrer Briefausstellung, ich mit meinen Krikelkrakel‑Texten aus der 1. Klasse und meinen Musiktexten.“ Sie hielt kurz inne, als überlege sie, ob sie den nächsten Satz wirklich laut sagen dürfe. „Ich schreibe nämlich heimlich Songs. Über genau solche Momente.“

Die Idee stand sofort im Raum, greifbar wie Kreidestaub: Jedes Kind sollte einen echten Brief an jemanden schreiben, der ihm wirklich fehlte oder wichtig war – an Oma in Senne, den Cousin in Ecuador, den unsichtbaren Vater, der nur noch als Name in der Akte stand, oder den Nachbarn im dritten Stock, der nie aus dem Fenster schaute. Hasso würde diese Briefe in seiner Zustelltour einsammeln, in seiner gelben Tasche wie kleine, flackernde Notlichter verstauen und zustellen, bevor das Schulamt die digitale Schranke endgültig herunterließ.

„Ein letztes Schulpost‑Experiment in analog“, nannte sie es und schrieb den Satz mit hart aufgedrücktem Kugelschreiber in ihr Notizheft, so dass sich die Rille sicher noch auf der nächsten Seite abzeichnete. Sie nahm sich vor, später einen Text darüber in den Lehrer‑Chat zu stellen – falls der Server sich bis dahin beruhigte und die Zertifikatswarnungen nicht wieder alles blockierten.

Hasso spürte dieselbe Wärme wie damals bei Björns Brief, aber heute mischte sich etwas wie Dringlichkeit darunter, fast Panik. Vielleicht, dachte er, waren diese Umwege über Papier nicht nur romantische Restbestände, sondern die letzten Brücken, bevor jeder nur noch auf Bildschirme starrte und Nachrichten wie Rauch verflogen. Und während draußen der Schnee dichter wurde und die Pausenglocke schrillte, hielt er die Hand kurz auf den Umschlag mit dem Stempel „Letzte Schulpost“ – als müsste er sich vergewissern, dass man Geschichte nicht nur liest, sondern in diesem Moment gerade mitschreibt.

POST

Björn Hardmudson – Der letzte Briefträger von Danmark

Es war einer jener Sommertage in Bielefeld, an denen die Sonne die Asphaltstraßen flimmern ließ und selbst die Fahrräder der Postboten träge wirkten. Auf dem Rasen vor dem alten Postamt standen sie dicht gedrängt – Männer und Frauen in Uniformen, ein Meer aus Gelb, Blau und Rot. Zwischen dampfenden Kaffeebechern und Geschichten aus alten Zeiten fand Björn Hardmudson, der Gast aus Danmark, seinen alten Freund Hasso von der Deutschen Post. Es war das internationale Postbotentreffen mit Postboten und Postbotinnen. Es fand wie jedes Jahr in der Alten Post in der City statt. Gesponsert von DHL als weltweiter Logistikpartner.

„Na, Björn!“, rief Hasso fröhlich, „über den Belt herübergeradelt?“
„Fast“, lachte Björn. „Aber ehrlich gesagt komme ich diesmal mit schwerem Gepäck.“
„Ach was, Rentenantrag?“
Björn schüttelte den Kopf. „Schlimmer. PostNord stellt die Briefzustellung ein. Ende 2025 ist Schluss.“

Hasso sah ihn an, als hätte er sich verhört. „Ganz aufhören? Keine Briefe mehr?“
„Keiner mehr,“ sagte Björn leise. „Nur noch Pakete. Die Geschichten der Menschen passen dann wohl in Kartons.“
Einen Moment lang schwieg Hasso. Dann klopfte er seinem Freund auf die Schulter. „Wenn’s so weit ist, dann schick mir den letzten. Ich werde darauf achten, dass er ankommt.“
Björn nickte. Und für einen kurzen Augenblick strahlte zwischen beiden das gemeinsame Verständnis jener, die einmal Träger der Worte waren.

Der Winter kam schnell. Der Morgenwind an der Küste war kalt und salzig, als Björn an einem Dezembermorgen den Sack über seine Schulter warf. Über København hing ein bleigrauer Himmel. „Ende 2025 wird der letzte Brief in Danmark zugestellt“, hatte man im Radio gehört. Und Björn wusste: Der letzte Brief würde durch seine Hände gehen.

Seit mehr als drei Jahrzehnten hatte er Liebesbotschaften, Mahnungen und letzte Worte ausgetragen – handgeschrieben, duftend, echt. Jetzt aber war alles anders. PostNord wollte sich modernisieren: Ab 2026 sollten nur noch Pakete ihr Kerngeschäft sein.

An diesem Abend hielt Björn an einem der letzten roten Briefkästen. „Bis zum 31. Dezember 2025 werden alle entfernt“, hatte man mitgeteilt. Er legte die Hand auf das spröde Metall. Dann zog er einen Umschlag hervor – ungeöffnet, unregistriert, nur mit drei Worten:
„Tak for tiden.“

Er warf ihn ein. Das leise Klacken des Einwurfs hallte in der frostigen Luft. Das Geräusch seiner Berufung – zum letzten Mal.

Ein Brief für Hasso

Zwei Wochen später, in Babenhausen Süd, einem ruhigen, grünen Stadtteil von Bielefeld, stapfte Hasso durch den Schnee vor seiner Haustür. Zwischen Werbeprospekten und Rechnungen lag ein unscheinbarer Brief ohne Absender, der nach Meer und kaltem Wind roch. Er öffnete ihn vorsichtig, und ein einzelner Satz stand darin, in vertrauter, kantiger Schrift:
„Tak for tiden.“

Hasso hielt inne. Die Worte sagten alles. Er setzte sich an den Küchentisch, sah auf den Brief – und plötzlich erschienen die Jahre in Gelb und Blau vor seinem inneren Auge: die frühen Morgen, die klammen Handschuhe, das kurze Lächeln an der Haustür.

Noch am selben Abend nahm er ein leeres Blatt Papier und notierte eine Idee, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging: eine kleine Ausstellung in Bielefeld über Briefe, alte Postkutschen, verschwundene Briefkästen und die Geschichten dahinter. Eine Hommage an das, was Menschen einander einst schrieben – und an Kollegen wie Björn, deren Arbeit nun aus der Zeit fällt.

Er heftete Björns Brief an eine Pinnwand über dem Schreibtisch. Darunter schrieb er: Ausstellungseröffnung: Wenn niemand mehr schreibt – und wir uns trotzdem erinnern.“


Dann legte er den Stift weg, sah ein letztes Mal auf die drei einfachen Worte – und beschloss, dass dieser Brief nie in einem Karton verschwinden würde.

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