Vorlesetag

Am Welttag des Vorlesens herrschte feierliche Aufregung in der Grundschule Hasenfrisch. Bunte Plakate schmückten die Flure, und aus mehreren Räumen drangen leises Kichern und gespanntes Warten. An diesem Tag war Bertha K. eingeladen worden, der 1. Klasse einen besonderen Besuch abzustatten.

Die Lehrerin, Frau L. Credi, begrüßte Bertha herzlich. Für die Kinder stellte sie eine gemütliche Leseecke mit bunten Kissen und Decken bereit. Bertha brachte nicht nur ihre Lieblingsbücher, sondern auch eine große Portion Lebensfreude mit. In ihrer ruhigen, warmen Stimme erzählte sie den Kindern von fernen Ländern und ihrem eigenen Leben zwischen Russland und Bielefeld.

Dann schlug sie eines der Bücher auf und begann ein russisches Märchen zu lesen. Bertha kam aus Jrdsowks.

Die Kinder lauschten gebannt, viele schlossen die Augen, um die Zauberwälder und mutigen Tiere vor sich zu sehen. Die kleine Nateschki, sechs Jahre alt, war besonders neugierig: Sie kannte Russisch von zu Hause und kletterte spontan auf Berthas Schoß, schmiegte sich an sie und hörte gebannt zu. Ihre dunklen Augen leuchteten vor Freude jedes Mal, wenn Bertha ein schwieriges russisches Wort ganz langsam und feierlich sprach.

L.Credi bemerkte lächelnd, wie die Generationen zusammenfanden: Die Geschichten verbanden die Kinder miteinander – und auch mit Bertha, die an diesem Tag viel mehr als nur Märchen schenkte. Freude, Wärme und eine Erinnerung daran, wie viel Geborgenheit schon ein gutes Wort und eine gute Geschichte bringen können.

So wurde der Welttag des Vorlesens für alle zu einem kleinen, unvergesslichen Fest – und Bertha verließ die Schule mit einem Herzen, das noch lange von den Kinderstimmen und dem Gefühl der Verbundenheit nachklang.

Während Bertha in der Leseecke den Kindern russische Märchen vorlas, stand draußen auf dem Schulhof ihr Mann Hubert K. Er hatte als Überraschung für die Schule einen ganzen Korb voller selbstgemachter Meisenknödel mitgebracht, die er kunstvoll zusammengebunden und liebevoll verpackt hatte.

Am Rand des Schulgartens bildete sich schnell eine kleine Traube neugieriger Kinder. Besonders drei Jungen entdeckten die bunten Meisenknödel zuerst und begannen sofort, sich heftig darum zu streiten: Wer dürfte den ersten aufhängen? Wessen Baum wäre am schönsten geschmückt? Hubert musste schmunzeln über den kindlichen Eifer. Mit einem Augenzwinkern schlug er ihnen vor, die Knödel gemeinsam im Schulgarten zu verteilen – und sich zu merken, wie schön es ist, wenn Menschen und Tiere sich begegnen, ganz ohne Streit.

Am Ende der Pause halfen alle zusammen, und in den Ästen der jungen Bäume im Schulgarten hingen bald bunte Knödel. Sogar die Jungen, die sich eben noch gezankt hatten, lachten miteinander. Hubert winkte Bertha durch das Klassenzimmerfenster zu – und beide spürten, wie eine kleine Geste manchmal große Freude bringen kann.

Plötzlich, als die Sonne gerade durch die kahlen Äste des Schulgartens blitzte und die Kinder lachten, rollte ein silberfarbenes Fahrzeug der Stadt Bielefeld auf den Schulhof. Zwei Beamte des Ordnungsamtes, in dunklen Uniformen und mit ernsten Mienen, schritten entschlossen auf Hubert zu. Die Idylle wurde augenblicklich von einer eisigen Stille verdrängt.

„Sind Sie Herr K.?“ fragte der größere der beiden, während der andere bereits sein Klemmbrett zückte. Hubert, noch mit einem Meisenknödel in der Hand, blickte irritiert auf. „Wissen Sie, dass das Verteilen nicht-veganer Meisenknödel in Bielefeld seit der letzten Stadtratssitzung strengstens untersagt ist?“

Die Kinder, die eben noch um die Knödel gestritten hatten, wichen erschrocken zurück. Zwei Mädchen hielten sich an Berthas Rockzipfel fest, Nateschki begann leise zu weinen. Noch während Hubert erklären wollte, er habe nur etwas Gutes tun wollen, klickten die Handschellen.

„Sie sind vorläufig festgenommen wegen Verstoßes gegen die Stadtsatzung und unerlaubter Abgabe tierischer Produkte an Vögel in öffentlichem Raum“, verkündete der Beamte kalt. Hubert blickte zu Bertha, deren Miene erstarrte – als hätte man die komplette Wärme aus diesem Tag gesogen.

Das einst fröhliche Schulfest war mit einem Schock beendet. Die Kinder standen still und ungläubig daneben, während Hubert abgeführt wurde. Durch das offene Fenster der Klasse fiel Berthas Märchenbuch zu Boden. Tränen standen in den Augen der Kinder – und in diesem Moment schien nicht nur der Schulgarten, sondern ganz Bielefeld ein klein wenig kälter zu werden.

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