
Der Wind fegte eisig durch die Straßen von Bielefeld, als Hubert K. an jenem Morgen der Rolandstraße entlangging. Die Stadt, die ihm seit Jahrzehnten eine Heimat war, wirkte an diesem Tag kälter und fremder als je zuvor. Mit jedem Schritt hoffte Hubert darauf, einen neuen Anfang zu finden, vielleicht sogar einen Sinn – stattdessen stoppte er abrupt. Vor seinen Füßen lag eine tote Meise, das Federkleid vom Frost erstarrt. Ein Stück Leben, ausgelöscht und übersehen zwischen Bordstein und Beton. Was war nur aus Bielefeld geworden?
Für Bertha K., die vor 30 Jahren aus Russland nach Bielefeld kam, war die Stadt einst ein Symbol für Hoffnung gewesen. Mit Stanislav, ihrem Mann, fand sie hier Zuflucht, Beständigkeit, das leise Glück im täglichen Miteinander. Doch seit Stanislavs Tod vor fünf Jahren lag auf Berthas Herz ein Schatten. Ihr Fenster zur Rolandstraße wurde zum Beobachtungsposten: Sie fütterte Vögel – Meisen, Spatzen, Amseln – schenkte ihnen jenen Funken Wärme, den sie in Bielefeld oft vermisste. Jeder Meisenknödel war ein Zeichen für Zuversicht, für Mitmenschlichkeit in der kalten Großstadt.
Doch die Verordnungen der Stadt Bielefeld holten sie ein. Seit dem Sommer 2025 steht mit nüchterner Strenge im Gesetz: Wer wildlebende Tiere füttert, verstößt gegen das Fütterungsverbot. Aus Sorge um die Taubenpopulation wurde in Vierteln wie dem Siegfriedplatz, mitten im Herzen von Bielefeld, jede Vogelfütterung kriminalisiert. Die Traditionen, die Herzen – alles sollte durch Ordnung ersetzt werden.
Bertha, gewohnt an russische Direktheit und Widerstandskraft, fütterte trotzdem, heimlich und mit Herzklopfen. Doch die tote Meise, gefunden von Hubert, wurde zum Mahnmal: Eine Stadt, die so sehr versucht, alles zu regeln, verliert das Gespür für ihre schwächsten Bewohner, die Menschen und Tiere gleichermaßen.
Hubert rang mit sich. Sollte er Bertha verraten? Sollte er Teil dieses Systems werden? Das Mitgefühl triumphierte. Statt einer Anzeige brachte er Bertha einen heißen Tee und einen alten Gedichtband in russischer Sprache vorbei. Gemeinsam verbrachten sie die langen Abende, während draußen über Bielefeld die Winterkälte immer tiefer kroch. Sie diskutierten, lachten, weinten – und erkannten: Das echte Bielefeld sind nicht Verordnungen und Strafen, sondern die Menschen, die sich umeinander kümmern.
Bertha und Hubert fanden inmitten von starren Regeln und frostigen Straßen zueinander. Vielleicht war es Schicksal, dass gerade eine tote Meise sie verband – als stummer Zeuge dafür, dass man im Herzen von Bielefeld immer noch Liebe und Menschlichkeit finden kann, wenn man den Mut dazu hat. Hubert K. und Bertha K. nahmen einen neuen Nachnamen an. Kraft wollten sie nun heißen. Und es war Zeit der Enkelin einen Brief zu schreiben.

