Glühwein

Rentner Heinz Boddenstädt ging es blendend. Dank diverser Rabattaktionen konnte er sich sogar eine charmante Villa auf der Insel Baltrum leisten – so dachte er zumindest. Um die Nebenkosten zu stemmen, sammelte er weiterhin eifrig Rabattmarken, nun sogar online. Allerdings stellte sich das Einlösen als knifflig heraus, da auf Baltrum lediglich Fietes Frischebude und das Knusperhuuske existierten, ohne die Präsenz von Discountern. Ein monatlicher Flug zur VIP-Lounge auf Sylt war für Heinz die Rettung, denn dort konnte er immerhin seine Rewe- und Edeka-Punkte nutzen. Die festlich geschmückte VIP-Lounge irritierte ihn jedoch – war schon wieder Weihnachten? Das Sammeln von Rabatten auf Baltrum schien nicht auf Dauer tragbar zu sein. Doch das Schicksal meinte es gut mit Heinz.

In der VIP-Lounge, als er gerade seinen Mantel an der Garderobe aufhängte, betrat eine elegant gekleidete Dame das Lokal. Beim Versuch, ihren Pelzmantel auszuziehen, brach der Absatz ihres linken High-Heel-Schuhs ab, sie stürzte, und ihr Handy flog spektakulär ins Hummerbecken des Restaurants. Jetzt war Eile geboten. Das nagelneue iPhone 20 konnte gerade mal 24,5 Sekunden im Wasser überstehen, bevor der Akku den Geist aufgab. Heinz, ein Mann der Tat, sprintete zum Hummerbecken und rettete das Handy aus den Fangarmen des Hummers.

Die erleichterte Dame umarmte Heinz, als er ihr das gerettete Handy reichte. Das iPhone war in eine auffällige Blink-Blink-Hülle gehüllt, doch Heinz hatte keine Ahnung. Die Dame stellte sich vor: „Großer Held, mein Name ist Frieda vor dem Schluck. Dieses iPhone ist mit echten Brillanten und Edelsteinen besetzt, die mein Vorfahre Umbertus Sangesfried Ignatius dem Kaisertyrannen im Jahr 1334 abgeschwatzt hat. Als Dankeschön lade ich Sie heute Abend an meinen Tisch ein – ich bezahle!“

Heinz konnte sich diese großzügige Einladung nicht zweimal sagen lassen. Frieda vor dem Schluck entpuppte sich als Millionärin und erzählte ihm begeistert von ihrem Reichtum, der auf den Weihnachtsmärkten erwirtschaftet wurde.

Die Tradition vorweihnachtlicher Märkte reicht bis ins Mittelalter zurück, als sie primär der Versorgung dienten. Heutzutage steht das gesellige Beisammensein im Vordergrund, und Weihnachtsmärkte sind vor allem für ihre dichten Menschenmengen zwischen den Ständen bekannt. Aufgrund der Corona-Pandemie mussten die Menschen 2020 und 2021 weitgehend auf dieses Vergnügen verzichten, was eine Unterbrechung der Weihnachtsmarkt-Tradition darstellte – das letzte Mal geschah dies während des Zweiten Weltkriegs. Die meisten Märkte wurden aufgrund der Corona-Hygienevorschriften abgesagt. Seit 2022 finden die Weihnachtsmärkte jedoch wieder ohne Einschränkungen statt. Dennoch wird aufgrund der Energiekrise vielerorts bei der Beleuchtung und stromintensiven Attraktionen gespart.

Trotzdem steht der Freude an dampfendem Glühwein, dem Duft von gebrannten Mandeln, vielfältigen Speisen und liebevoll gestaltetem Kunsthandwerk nichts im Wege. Mancherorts wird wohl auch der Weihnachtsmann zu sehen sein, der Geschenke an die Kinder verteilt. Große Städte haben oft mehrere Märkte, die bereits vor dem ersten Advent bis kurz vor Heiligabend oder sogar darüber hinaus geöffnet sind. Auch viele kleinere Ortschaften oder Höfe veranstalten Weihnachtsmärkte, meist jedoch nur für einen oder wenige Tage.

Die Ursprünge der Weihnachtsmärkte im deutschsprachigen Raum reichen mehr als 600 Jahre zurück. Der Bautzener Wenzelsmarkt soll bereits 1384 stattgefunden haben, der Dresdener Striezelmarkt wird 1434 urkundlich genannt, und der Nürnberger Christkindlesmarkt oder der Augsburger Lebzeltermarkt existieren ebenfalls schon seit langer Zeit. Der Wiener „Wintermarkt“ geht sogar auf das Jahr 1382 zurück. Jedoch hatten die Märkte im Mittelalter wenig Ähnlichkeit mit den heutigen Vergnügungsveranstaltungen. Stadtbewohner deckten sich dort mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen für den Winter und das Weihnachtsfest ein. Neben Händlern erhielten auch Handwerker das Recht, ihre Waren anzubieten, darunter Korbflechter, Schuster und nach und nach auch Spielzeugmacher. Kuchenbäcker sorgten für das leibliche Wohl, und fahrende Musikanten sorgten oft für musikalische Unterhaltung.

Der Übergang von einem Versorgungsmarkt zu einem stimmungsvollen Vergnügen begann im 17. und 18. Jahrhundert. In dieser Zeit vollzog sich ein Wandel des Weihnachtsfests von einem rein religiösen zu einem bürgerlichen Familienfest. Geselliges Beisammensein und Geschenke für die Kinder gewannen an Bedeutung. Auf den vorweihnachtlichen Märkten gab es vermehrt Speisen, Getränke und Spielzeug. Der Brauch, Krippen aufzustellen, stammt ebenfalls aus dieser Zeit, wobei die ersten Krippen zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus Italien kamen. „Lebende Krippen“ mit Schafen, Ziegen und Eseln sind manchmal noch heute auf ländlichen Märkten zu finden.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel durch die Industrialisierung änderten sich im 19. Jahrhundert auch viele Weihnachtsmärkte. Berichte über Zusammenstöße auf dem Berliner Weihnachtsmarkt weisen auf soziale Konflikte hin. Mit dem Aufkommen von Kaufhäusern ab 1920 verschwanden viele Waren von den Märkten, da sie in den Warenhäusern günstiger und in größerer Auswahl zu haben waren. Stattdessen erlebte die folkloristische Ausrichtung der Märkte einen Aufschwung. Tannenbäume und Lichter schufen eine gemütliche Atmosphäre, und traditionell gestaltete Buden sowie feierliche Zeremonien und Musik bestimmten zunehmend das Geschehen. Einige katholische Gegenden hielten jedoch an der Tradition fest, die Adventszeit als Fastenzeit zu betrachten.

 Und wer Michel aus Lönneberga gesehen hat, weiß, wie enthaltsam die Adventszeit war, weil dann Weihnachten alles auf den Tisch kam.

In Deutschland finden mittlerweile jährlich mehr als 2.500 Weihnachtsmärkte statt, wobei der Leipziger Weihnachtmarkt mit seinen rund 300 Ständen als einer der größten des Landes gilt. Neben den imposanten Weihnachtsmärkten mit Hunderten von Buden und einem vielfältigen Rummelangebot, einschließlich Fahrgeschäften und Eisbahnen, entstehen auch immer mehr kleine Märkte. Diese finden beispielsweise in städtischen Hinterhöfen oder auf abgelegenen Gutshöfen statt und tragen Namen wie Weihnachtsmarkt, Christkindlmarkt oder Adventsmarkt. In Zeiten, in denen die christliche Tradition in den Hintergrund tritt, gewinnt auch die Bezeichnung Wintermarkt zunehmend an Bedeutung.

Der Trend geht zu historisch anmutenden Ständen, einem mit Rindenmulch ausgelegten Boden und traditionellem Kunsthandwerk. Neben dem obligatorischen Glühwein bieten diese Märkte – neben regionalen Spezialitäten – auch immer noch Lebkuchen oder Zuckerwatte. Weihnachtliche Blasmusik und frisch gebackene Waffeln gehören für viele Besucher zum festlichen Erlebnis. Allerdings steht nicht mehr der Messias Jesus im Mittelpunkt.

Ein beeindruckendes Beispiel ist die begehbare Weihnachtspyramide auf dem Rostocker Weihnachtsmarkt, die mehr als 20 Meter hoch ist. Über drei Kilometer erstrecken sich Buden und Attraktionen durch die Innenstadt. Doch auch in Bielefeld sollte eine Weihnachtspyramide stehen, dachte Heinz. Was ihm die feine Dame, Frieda vor dem Schluck, wohl mitteilen möchte?

„Heinz“, begann die Millionärin, „ich wurde mit Glühwein zur Millionärin. Jeder Deutsche trinkt im Jahr einen halben Liter Glühwein.“ Frieda vor dem Schluck schien alle Geheimnisse zu kennen. Sie entstammte einer Glühwein-Dynastie und behauptete, den Markt zu beherrschen. „Damit erreichen wir eine Abdeckung von 90 Prozent“, erklärte sie stolz. In der dritten Generation führt Frieda vor dem Schluck die gleichnamige Weinkellerei Schluckenried. Ihr Großvater Franz erlangte in den 1960er Jahren mit einer Branntweinfabrik und einem Stand auf dem Fürther Christkindles-Markt den Durchbruch. Seitdem ist der berühmte Weihnachtsmarkt ohne ihr Heißgetränk undenkbar. Aufgrund des größeren Platzangebots in Nürnberg verlegte Frieda vor dem Schluck ihre Firmenzentrale in die Frankenmetropole.

Der Erfolg beruht auf einer geheimen Rezeptur und großen Mengen preiswerten Rotweins, vorwiegend aus Italien. Die genaue Menge an Glühwein, die jährlich die Produktionsanlagen am Nürnberger Hafen und in einer brandenburgischen Dependance verlässt, bleibt Frieda vor dem Schluck schuldig. Schätzungen gehen jedoch von über 50 Millionen Litern aus, die sie europaweit unter verschiedenen Markennamen verkauft.

Doch warum hat Glühwein einen so schlechten Ruf? Ein Grund liegt in der EG-Verordnung 251/2014, die genau regelt, was in einen Glühwein gehört und was nicht. Dennoch ermöglicht die Verordnung den Einsatz von Aromen und Zucker, ohne dass sie deklariert werden müssen. So enthält der Großteil der handelsüblichen Glühweine keine echten Kräuter oder Gewürze. Frieda vor dem Schluck erzählte von ihrem ersten Kunden aus Hamburg, Bernd Hagenbrunn, der im Weihnachtsgeschäft eine zentrale Rolle spielt.

Bernd Hagenbrunn ist seit 40 Jahren im Schausteller-Geschäft tätig und betreibt Imbiss- und Getränkebuden auf verschiedenen Festen und Märkten. Auf einem der Weihnachtsmärkte in der Hamburger City besitzt er alle 65 Stände und weitere 34 Buden in der Fußgängerzone. Eine ausgeklügelte Mischkalkulation ist erforderlich, wobei der Glühwein eine zentrale Rolle spielt. Hagenbrunn erhält den Glühwein von einem Großhändler für 1,30 bis 1,35 Euro pro Liter und verkauft ihn im Hamburger Winterwald für vier Euro pro 0,2-Liter-Henkelbecher, was einer Marge von über 1000 Prozent entspricht. Die Standmiete für einen Glühweinausschank beläuft sich angeblich auf über 20.000 Euro für vier Wochen. Bernd Hagenbrunn musste nur sechs Wochen im Jahr arbeiten. Das reichte für sechs Monate Teneriffa.

Die Geschäftsidee von Frieda vor dem Schluck inspirierte Heinz. Die Unternehmerin schlug vor, dass er ihre Lizenz für den Weihnachtsmarkt in Bielefeld übernehmen könnte. Da die Stadt nicht existiert, könne er die Lizenz haben. Frieda vor dem Schluck, Mitglied einer Glühwein-Dynastie, riet ihm jedoch, es mit Flammkuchen zu versuchen, da die Gewinnmarge noch höher sei. Sie warnte jedoch davor, an der Bude etwas mit „Jesus ist geboren“ zu schreiben, da dies den Umsatz beeinträchtigen könnte. Heinz wusste nun, was zu tun war.

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